Rezension
Mirella Kuchling
Die Engelmacherin von Graz. Erster Grazer Bezirkskrimi
Edition Keiper 2025, 350 Seiten
ISBN 978-3-903575-39-4
Antonia Schreiner hat es im Leben nicht leicht gehabt. Schon als ganz junges Mädchen musste sie in Graz ihre an Typhus erkrankte Mutter pflegen. Nachdem diese verstorben war, kam sie zu einer Tante nach Wien, wo sie bald einen um viele Jahre älteren Ehemann fand. Zuvor hatte sie das Handwerk der Krankenpflegerin und von einer Kollegin das der Hebamme erlernt. Als diese Kollegin Wien überstürzt verlassen musste, weil auffällig viele der von ihr zur Welt gebrachten Kinder sehr bald nach der Geburt verstarben, übernahm Antonia ihre Arbeit.
Jetzt, zwei Ehemänner, drei Kinder und einen mehrmonatigen Gefängnisaufenthalt wegen Vernachlässigung der ihr anvertrauten Kinder später, ist Antonia wieder in Graz. Und auch hier verhilft sie jungen Frauen aus ihrer verzweifelten Lage, denn ein nichteheliches Kind ist Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine Katastrophe für eine Frau: Verlust des Arbeitsplatzes, keine Chance auf einen Ehemann, kein ehrbares Leben. So pilgern sie zu Mütterlein Schreiner, die im Gries, auf der „falschen“ Seite der Mur, nicht nur als inoffizielle Hebamme arbeitet, sondern Neugeborene auch gegen Kostgeld bei sich aufnimmt. Allerdings werden diese Kinder nie sehr alt. Mütterlein Schreiner spart bei Nahrung und Wärme nicht nur, um das Geld für sich selbst zu verwenden, sondern auch weil sie der Meinung ist, die unzüchtigen Frauen müssen bestraft werden.
Von ihren eigenen drei Kindern haben zwei Graz bereits verlassen, nur ihre jüngste Tochter Christina lebt noch bei ihr, schaut sich das Handwerk von der Mutter ab. Aber nicht nur Antonia Schreiner hat ein schweres Schicksal; im Gries leben die, die es im Leben immer schlecht gehabt haben, zu Alkoholikern und Verbrechern geworden sind. Christina möchte ein besseres Leben – dafür will sie den evangelischen Pfarrer, der Frauen nicht widerstehen kann, zur Ehe mit ihr nötigen. Um ihr Ziel zu erreichen, muss sie dem Pfarrer eine Falle zu stellen, denn Christina ist weder liebenswert noch hübsch.
Doch schließlich wird Antonia Schreiner des Mordes an ihren Kostkindern überführt und in Wien gehenkt. Christinas Ruf ist völlig ruiniert, die Chance auf eine Ehe mit dem Pfarrer dahin. Sie verlässt Graz, um in einer anderen Stadt in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten.
Mirella Kuchling ist ein eindrucksvolles Portrait des Lebens der Menschen in Graz gelungen, die benachteiligt, ohne soziale Sicherheit waren – Dienstboten, Gelegenheitsarbeiter, etc. – um deren Schicksale sich niemand kümmerte, wenn man sie nicht mehr brauchte. Sie schafft es, diese Lebensumstände vor den Augen der Leserinnen und Leser entstehen zu lassen, wobei ihr die jahrelange Beschäftigung mit historischen Kriminalfällen – nicht nur in Österreich – geholfen hat, ein authentisches Bild der gesellschaftlichen Umstände zu erschaffen.
Deshalb ist es besonders schade, dass der Verlag nicht mehr Sorgfalt auf das Lektorat verwendet hat. Redundanzen, vor allem bei der Personenbeschreibung, hätten vermieden werden können: Man hat schon nach den ersten paar Seiten verstanden, wie hässlich und bösartig Antonia und Christina Schreiner sind, braucht nicht die gleichlautende Wiederholung dieser Attribute bis zur letzten Seite.
Das ist allerdings nur eine kleine Einschränkung. Der Roman sei allen empfohlen, die sich für die Kehrseite des glanzvollen Lebens während der österreichischen Monarchie interessieren. Allerdings sollte man schon für das erste Kapitel starke Nerven mitbringen.
Sascha Wittmann (2025)