Rezension

Rosemarie Schulak

Das andere Brot

Die Geschichte einer Selbstwerdung

Deltax Verlag, Wien, 2020, 340 Seiten

ISBN 978-3-903229-19-8

 

Die Lyrikerin und Prosa-Schriftstellerin Rosemarie Schulak stellt sich im Vorwort dieser "Entwicklungsgeschichte eines nach der Geburt weggelegten Kindes" zwei Fragen: wie sich dieses isolierte Kind für das Gute und Schöne entscheiden konnte, und wie es diese "destruktiven Erfahrungen", das Böse und sogar die Angst davor überwinden konnte.

In ihrer subtilen Schilderung der wahren Geschichte skizziert Rosemarie Schulak die Entstehung eines seelischen Reichtums, dessen früheste Anlagen so spärlich und zart sind, dass sie nur flüchtig angedeutet werden können. Georg, so heißt der Protagonist, hat sehr wenig Zuwendung erfahren und doch darauf eine beständige Suche aufgebaut, die ihn schließlich zu einem erfüllten Leben führte. Lange dominierte der Mangel. Und doch gab es offenbar am Beginn seines Lebens diese kaum wahrnehmbaren Ansätze von besorgter Zuwendung, denn das Neugeborene war nicht irgendwo, sondern notdürftig geschützt vor einem Kloster abgelegt worden, einem Ort, wo die Verpflichtung zur Liebe für den Nächsten und zu dem armen Kind in der Krippe herrscht. Und viele Jahre später, als sich der Schulbub schon zu fragen begonnen hatte "Warum habe ich keine Mutter?" (66f.) erfährt er von der Frau, bei der und deren Mann er als ungeliebtes Kostkind lebt, dass seine leibliche Mutter ohnehin unlängst da gewesen wäre und ihm von ferne zugeschaut hatte, während er im Garten arbeiten musste. Welche Gründe sie auch immer zu der Kindesweglegung getrieben hatten – auch das entspricht nicht einer Vorstellung völliger achtloser kalter Ablehnung, sondern legt eher Gedanken an Reue und Sorge nahe, was in all den Jahren aus dem Baby geworden sein mag. Es ist also durchaus wahrscheinlich, dass Georg zumindest eine Ahnung jener frühesten Lebensphase mitbekommen hat, die man als "primäre Mütterlichkeit" bezeichnet und die in einer unwillkürlichen, ein paar Wochen vor der Geburt beginnenden völligen Ausrichtung der Mutter auf das Kind besteht. Diese symbiotische Beziehung besteht nach der Geburt noch einige Wochen fort und geht dann normalerweise allmählich in eine unauffällige mütterliche Fähigkeit zur Einfühlung über, die Georg wohl nicht mehr zuteil wurde.

Und doch findet sich in seiner frühen Geschichte ein eindrucksvoller Niederschlag seiner vorsprachlichen Zeit: die beweglichen Bilder der Filme werden zu seinem Lebensinhalt und eröffnen ihm, dem winzigen, heimlichen Kinogast, eine neue Welt, die ihn anzieht. Um sie zu sehen lernt er Ordnung, Pünktlichkeit und andere Tugenden, die seinen Charakter formen und ihm Appetit machen auf ein anderes, kultiviertes Leben. Denn wo er jetzt lebt, wird ihm Hunger übelgenommen, und Wärme spürt er nur bei den Hasen. In den Filmen aber gefallen ihm Kussszenen ganz besonders. In der realen Umgebung sind es die alten Eltern seiner Pflegeeltern, gleichsam seine "Großeltern", bei denen er- leider nur kurz – Wärme und Nähe- erfährt und erstmals hört, dass es außer dem köstlich schmeckenden Brot noch EIN ANDERES BROT gibt. – die Welt der Bücher, die ein mindestens ebenso starkes Bedürfnis befriedigen können bei ihm wie Brot Hunger stillt.

Als er endlich Papiere bekommen muss, die seine Identität legitimieren und er auch eine erste Lehrstelle als Bäckerlehrling hat, ist er zwar "noch nicht glücklich, aber doch satt" (S 90). Immer deutlicher erkennt Georg, dass ihm die Wurzeln fehlen: er hat es "immer gewusst, nur nicht durchdacht" (S 108). Nun aber wird Zuversicht denkbar, eines Tages wird er Wurzeln bekommen. Der Weg dorthin ist zwar noch weit. Während er zum Bäckergesellen wird, erlebt er das Glück eines ersten eigenen Zimmers und einer freundlichen Vermieterin - man könnte an eine Filmszene denken - in einer traumhaften Gegend, deren Entfernung von seinem Arbeitsplatz ihn nicht abgeschreckt hat. Überanstrengung durch nächtliche Radfahrten, gesundheitliche Probleme, Herzbeschwerden, die erstmals bei einer abschreckenden Zudringlichkeit einer Frau aufgetreten sind, machen schließlich eine Operation nötig. So lernt er Schwester Lieserl kennen, die an ihm Anteil nimmt, aber doch mit seinen kulturellen Interessen nicht Schritt halten kann und seine Einladungen zu teuren Theaterbesuchen immer wieder verfallen lässt. Georg findet aber auch in diesen Zeiten immer wieder väterliche Zuwendung: ein Antiquar, dessen Beratung bei der Lektüre ihm wieder neue Bereiche eröffnet, und ein wohlwollender Arzt, der ihn endlich überzeugt, dass er einen anderen Beruf braucht. Nach langer Suche findet er einen idealen Platz, der einen Kindertraum zu erfüllen verspricht: ein Hoch-Tief- und Straßenbau-Büro sucht und findet in ihm, dem Bäckergesellen, den gesuchten engagierten Mitarbeiter, und Georg findet Anerkennung, Respekt und heitere Kollegialität. Kein Wunder, dass er in dieser Reifezeit auch durch eine Zufallsbekanntschaft eine Freundin findet, die eine echte Partnerin ist auf seinen kulturellen Unternehmungen, die gleichzeitig aufmerksam im Hintergrund bleibt und doch so viel zu bieten hat, auch den Zugang zu ihrer Familie. Und so bastelt Georg weiter an seinem Wunsch, selber eine eigene Familie zu haben. Auch wenn ihn manchmal selber bittere Gefühle überkommen wie Neid auf die anderen, die in einer Familie aufwuchsen und Schulbildung hatten, überwiegt doch bei ihm nie dauerhaft die Negativität. Er wird "auf eine neue, völlig ungewohnte Art glücklich" (S 288) Er hat die wichtige Rolle der Sehnsucht erkannt: "Immer zählt doch nur die Idee, keineswegs bloß die angebliche Realität" (S 292). Und die Beziehung zu der Freundin, einer liebe- und verständnisvollen Frau auf gleichem Niveau, ruht auf einer Idee, auf einer Sehnsucht nach Nähe und Verstehen, die allzu lange unerfüllt war, aber sich aus einem winzigen Keim doch entwickeln konnte. Georg fühlt endlich "Wurzeln an seinen Sohlen, spürt mit jedem Tag neu, wie sie in den Boden wachsen und mächtig ausgreifen darin" (S 288). Seine Wurzeln reichen tief in die Vergangenheit mit ihren schriftlichen Werken, von denen er so viel profitierte, und all dieser Reichtum befruchtete sein gegenwärtiges Leben.

Dass es eine wahre ermutigende Geschichte ist, erhöht ihren Wert in diesen schwierigen Zeiten ganz besonders.

 

 

Rezensentin: Sylvia Zwettler-Otte

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