Rezension
Sabine M. Gruber
Alles gut, am Ende
Bibliothek der Provinz 2024, 384 Seiten
ISBN 978-3-99126-264-0
„Je näher ein Mensch dem Ende zugeht, desto wertloser scheint seine Lebenszeit zu werden.“ Und der Mensch selbst wird wertloser, je mehr er auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Ein großes Rätsel ist unsere Zukunftsblindheit. Wir leben, als hätten wir ewig Zeit. Wir bauen Häuser, als könnten wir uns ewig auf die Kraft unserer Beine verlassen. Wir wählen Parteien, die so tun, als sei das Gendern eine größere Bedrohung als der Pflegenotstand. Wir leben, als lebten wir ewig.
Sabine M. Gruber sieht sich das Ende genau an. Ihr fünfter Roman handelt von einer achtzigjährigen ehemaligen Deutschlehrerin, die nach einem hilfsbereiten Leben selbst immer hilfsbedürftiger wird. „Vor Kurzem noch ist Vera ein vollständiger Mensch gewesen“, mit Eigenschaften und Erlebnissen und Fähigkeiten, die sie einzigartig machen. Die Leserin ahnt früh, dass ihre Gebrechlichkeit kein unvermeidliches Schicksal ist. Die einst so bildungshungrige und musikalische Vera wird in einen pharmazeutischen Teufelskreis gestoßen, der die gerade noch selbständig lebende Pensionistin binnen Kurzem zum Pflegefall macht. Ausnahmsweise wird einem alten Menschen nicht zu wenig, sondern zu viel Pflege zuteil, was um keinen Deut besser ist. In Grubers Roman ist dafür ausgerechnet der Sohn verantwortlich, der eine Karikatur eines Primars geworden ist und die beginnende Hinfälligkeit seiner Mutter als narzisstische Kränkung empfindet. Seine mangelnde Fürsorge macht er mit einem toxischen Medikamentencocktail wett. Alles, was seine Mutter macht und lässt, wird zum Symptom ihrer vermeintlichen Demenz, und alles wird medikamentiert, wodurch erst neue Symptome entstehen – „eine Frau verschwindet im Staub der Verordnungslawine.“ Im Verbund mit einem Hausarzt der ältesten Schule und überforderten 24-Stunden-Pflegerinnen erscheint Vera mit einem Mal moribund. Wäre da nicht ihre Tochter Nina, der es endlich gelingt, sich gegen den autoritären Bruder zugunsten der Mutter durchzusetzen. Vom Ende wollen wir nicht zu viel verraten, bloß auf den Titel hinweisen.
Sabine M. Gruber geht es in „Alles gut, am Ende“ nicht nur darum, wie unsere Gesellschaft mit alten Menschen umspringt. Sie dichtet Vera ein Leben an, das den Umgang mit ihr umso empörender wirken lässt. Sie schildert die großen und kleinen Kämpfe der Frauen um ein eigenes Leben. Und sie erzählt von einer Generation, die noch unmittelbar vom Krieg traumatisiert worden ist, wovon im letzten Lebensabschnitt manches wieder aufbricht.
Stilistisch schreibt Gruber, wie es einer Deutschlehrerin als Hauptfigur gut ansteht, weder manieriert noch pseudomodern (bis auf den aktuell recht beliebten großzügigen Einsatz: des Doppelpunktes – irgendwas Kritisches muss man ja schreiben ;-). Bemerkenswert ist der souveräne Aufbau der Zeitebenen, denn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verknüpft Gruber elegant.
An manchen Stellen steht das Anliegen vielleicht etwas zu plakativ im Vordergrund, was angesichts seiner Dringlichkeit aber nachvollziehbar ist. Es ist ja empörende Realität, dass man „die Alten“ zwar nicht mehr so nennen darf (stattdessen „Senioren“ oder „ältere Menschen“), sie jedoch zugleich einem System überlässt, in dem ein bloßes warm, satt und sauber reichen soll – und im schlimmsten Fall nicht einmal mehr das. Hier aber wird einer alten Frau eine Zukunft geschenkt, und so zitiert Gruber treffend Max Raabe: „Am Ende kommt immer der Schluss, bis dahin tobt das Leben.“
Dominika Meindl (2025)